Campaigning-Trends: Wie lockt man das Volk aus der Publikumsrolle?

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Marianne Grimmenstein führte die größte Verfassungsbeschwerde in der BRD-Geschichte durch: Die Hobby-Juristin sammelte fast 70.000 Unterschriften gegen das Freihandelsabkommen CETA. Seit vielen Jahren will sie auch Volksgesetzgebung auf Bundesebene möglich machen.

Im Interview erzählt sie, wo die Hürden liegen. Zu den häufigsten Irrtümern zählt die Befürchtung, dann könnte die Todesstrafe eingeführt werden. Wie räumt man solche Vorurteile aus? Welche Rolle spielen Offline-Veranstaltungen bei der Überzeugungsarbeit?

INTERVIEW

Frau Grimmenstein, könnte man sagen, das Volk hat Angst vor sich selbst? Es ist doch eine handfeste Paradoxie, dass in einer Demokratie die BürgerInnen, die der Souverän sind, ihre Vertreter wählen und sich selbst zum Publikum degradieren. So kann man den Scharmützeln in der politischen Arena nur machtlos zuschauen. Warum ist das Volk nicht einfach für Volksgesetzgebung?

Grimmenstein: So lange, bis man ein Volk nicht fragt, wird man auch kein reifes Volk finden. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie ist eine indirekte Demokratie. Sie konzentriert die Macht in den Händen einer kleinen Elite, was die Wahrscheinlichkeit von Korruption und Lobbyismus erhöht. Da das Volk die tatsächliche Regierungsgewalt mit den Wahlen vollständig an seine gewählten Vertreter abtritt, hat es auf gesetzlicher Ebene keine Möglichkeiten mehr zur Einflussnahme auf den gesamten politischen Entscheidungsprozess.

Längst hat sich eine elitäre Machtstruktur gebildet, die weitgehend entkoppelt von der Bevölkerung regiert. Die Lobbyisten haben der Politik unsichtbare Fesseln angelegt. Inzwischen schreiben Lobbyisten in den Ministerien an den Gesetzesentwürfen mit, und/oder die Fraktionen der Regierungsparteien übernehmen deren Gesetzesvorschläge nahezu identisch. Die massive unkontrollierte Einflusszunahme der Lobbyisten untergräbt die Macht des Parlaments. Die Abgeordneten, die eigentlichen legitimierten Entscheidungsträger in der Politik, werden ihrer Verantwortung, die Volksinteressen zu vertreten, immer weniger gerecht. Den Vorlagen der Regierung wird von den Abgeordneten – entgegen ihrer Verpflichtung zur Gewissensfreiheit (Art. 38 GG) – zugestimmt. Die Mandatsträger sind zwar vom Volk legitimiert, jedoch von ihrer Partei abhängig.

Die bekannten Defizite der innerparteilichen Demokratie führen zur Bildung von Machteliten. Diese Klientelpolitik steht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Demokratie und unserem Grundgesetz. All diese Probleme sind Ausdruck eines Demokratiedefizits. Es ist eine Tatsache, dass durch direkte Demokratie der politische Wettbewerb viel intensiver ist und eine Qualitätssteigerung bewirkt wird.

Welche Vorurteile und Irrtümer erleben Sie? Wie argumentieren Sie dagegen?

Grimmenstein: Das sind die zwei wichtigsten Argumente gegen die Volksgesetzgebung:

Vorurteil 1:  Die Todesstrafe kann wieder eingeführt werden

Diese Behauptung ist nicht stichhaltig. Volksentscheide dürften in Deutschland nur grundgesetzkonforme Themen behandeln. Noch dazu würde das Bundesverfassungsgericht solche Volksinitiativen sicher nicht zulassen. Alle vier zur Abstimmung vorgelegten Gesetzentwürfe sind grundgesetz- und menschenrechtskonform. 

Vorurteil 2: Volksentscheide fördern den Extremismus (z.B. Rassismus, von Links bis Rechts)

Genau das Gegenteil ist der Fall. Durch das Versagen der politischen Akteure und die Hilflosigkeit der Massen wird Extremismus gefördert und gestärkt. Weil die Menschen in den politischen Prozessen mit Volksgesetzgebung nicht eingreifen können, versuchen sie in ihrer Verzweiflung, bei den Extremen ihre Wohlstandsverteidiger zu finden. Wenn die Menschen über Volksgesetzgebung stets in die politischen Prozesse eingreifen und so mitentscheiden können, haben die Extremen nachweislich keine Chance mehr.  

Das Thema ist komplex, man muss sich einarbeiten. Wie bringt man gestresste Menschen dazu, diese Energie aufzubringen?

Grimmenstein: Das Ja-Nein-Argument ist das wichtigste Argument gegen Volksentscheide auf Bundesebene. Es wird immer wieder behauptet, dass man die Antworten bei komplexen Themen nicht auf JA oder NEIN reduzieren kann, was für die Durchführung von Volksentscheiden nötig ist.

Nach Paragraph 46 Satz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages muss der Bundestagspräsident die Frage vor jeder Abstimmung so stellen, dass man sie mit JA oder NEIN beantworten kann. Bei Volksgesetzgebung ist das Volks in keiner anderen Situation als das Parlament. Nur in dem Verfahren vor der Gesetzgebung gibt es Unterschiede. Die Volksgesetzgebung ist viel aufwendiger. Dadurch gibt es breite Diskussionen in der Gesellschaft, die die politische Bildung der Bürgerinnen und Bürger enorm fördern. Das bewirkt auch, dass der gestresste Bürger politische Interessen entwickelt.

Parlamentarische Gesetzgebung ist in vieler Hinsicht einfacher, denn es funktioniert meistens mit Fraktionszwang, wobei die Abgeordneten über keine großen Sachkenntnisse verfügen müssen. Für Demokratie braucht es ein mündiges Volk. Der Bürger muss gefragt werden, damit er sich auf die Gesellschaftsprobleme einlässt und in die Verantwortung tritt.

Die Erfahrungen mit direkter Demokratie zeigen, dass die BürgerInnen fähig sind, auch komplexe politische Entscheidungen zu fällen. Politische Inkompetenz ist keine Ursache, sondern eine Folge davon, dass den Bürgerinnen und Bürgern in rein parlamentarischer Demokratie die direkte Teilnahme an der politischen Beschlussfassung verweigert wird. Unter Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit direkter Demokratie beschäftigen, ist die Einigkeit über die Vorteile direkter Demokratie groß. In der direkten Demokratie ist eine viel feinere Steuerung politischer Entscheidungen durch den Bürger möglich als nur durch Wahlen allein.

Was sagen Sie Bürgern, die partout gegen Volksabstimmungen sind?

Grimmenstein: Es geht uns ökologisch so schlecht, dass jeder Bürger mehr Verantwortung übernehmen muss. Wenn wir ein „Weiter so“ tolerieren, hat die Menschheit kaum eine Chance zu überleben. 

Was erleben Sie, wenn Politiker dagegen argumentieren?

Grimmenstein: Die Mündigkeit der Bürger ist der Gradmesser einer demokratischen Gesellschaft. Repräsentanten halten das Volk für unfähig zu politischen Entscheidungen mit großer Tragweite. Die Parteien misstrauen dem Volk. Für sie bedeutet Demokratie Machtausübung für den Bürger und nicht durch den Bürger. Nur durch Mitbestimmung können die Bürger größere Verantwortung übernehmen, die für unser Überleben absolut notwendig ist.

Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Verhältnis zwischen Online- und Offline-Campaigning? Analoger Austausch erlebt gerade eine Renaissance. Campact organisiert z. B. Hunderte Diskussionsrunden, die UnterstützerInnen arbeiten Forderungen zur Bundestagswahl aus. Auch die „Offene Gesellschaft“ von Harald Welzer (Anm.: unterstützt von der unternehmensnahen Robert Bosch Stiftung) setzt auf Debatten. In Hamburg erzählte Welzer kürzlich, die Gesellschaft brauche mehr einigende Erlebnisse, das letzte war das Fußball-Sommermärchen. Wie wichtig sind Begegnungen?

Grimmenstein: Persönliche Begegnungen sind absolut wichtig. Man kann nicht alles mit Online-Campaigning lösen. Wir müssen mehr miteinander diskutieren, dann wird es unserer Gesellschaft auch besser gehen. Begegnungen helfen uns, die Solidarität zu entwickeln, die für das Überleben unserer Gesellschaft notwendig ist. Als Überzeugungsarbeit nützt am meisten ein persönliches Gespräch. Nur mit einer E-Mail kommt man sich nicht so nah.

Ulrike Sumfleth,
Sintfluth Campaigning
Mi, 12.10.2022, 17:20 Uhr